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„Dass Menschen mit Beeinträchtigungen mehr als ein Taschengeld für ihre Arbeit haben wollen, ist keine Bitte, sondern ihr Recht.“

Am 23.04. hat die Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte Niedersachsen zur Demo aufgerufen. Auch der Vorstand der Lebenshilfe Niedersachsen hat diese Veranstaltung unterstützt. Nach Angabe des Veranstalters sind 4000 Menschen nach Hannover gekommen, um ganz nach dem Motto „Nichts über uns – ohne uns!“ für faire Werkstattlöhne zu demonstrieren. Neben anderen hat auch Frank Steinsiek, Landesgeschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen, bei der Veranstaltung eine Rede gehalten. Hier gibt es die ganze Rede zum Nachlesen.

Liebe Teilnehmende,

Mein Name ist Frank Steinsiek und ich bin Landesgeschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen.

Die Lebenshilfe wurde vor über 60 Jahren gegründet. Es waren Eltern von beeinträchtigten Kindern, die gesagt haben, dass sich etwas ändern muss.

Ihre Kinder haben zu Hause oder in großen Anstalten gelebt.
Die Eltern wollten mehr.

Sie wollten, dass ihre Kinder teilhaben.
Dass sie in den Kindergarten gehen können.
Dass sie in die Schule gehen können.

Dass sie nicht ihr Leben lang zu Hause leben müssen, wenn sie es nicht möchten.
Und dass sie eben auch die Möglichkeit haben, arbeiten zu gehen.

Es wurden dafür eigene Angebote gegründet.

Heute am Dienstag den 23. April 2024 wären viele von ihnen sehr stolz.
Vor 60 Jahren sind Eltern und Angehörige auf die Straße gegangen.
Heute, 60 Jahre später, sind es Menschen mit Beeinträchtigungen selbst, die auf die Straße gehen.
Und darauf können alle, die heute hier sind, sehr stolz sein.

Aber ist es wirklich gelungen, dass alle Menschen teilhaben können?
Es gibt immer noch Menschen, die keinen Zugang zur Teilhabe am Arbeitsleben haben.
Im Gesetz heißt das: wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung.
Und an die möchte ich heute als erstes denken. Wir dürfen sie nicht vergessen.

Alle Menschen müssen Zugang zur Teilhabe am Arbeitsleben haben.

In den letzten 60 Jahren ist viel passiert.
Integration, Inklusion, die UN-Behindertenrechtskonvention wurde vor 15 Jahren verabschiedet.
Und das Bundesteilhabegesetz beschlossen.

Darin geht es um Selbstbestimmung und Teilhabe.
Das ist uns als Lebenshilfe sehr wichtig.
Für uns bedeutet das: wir wollen vom Menschen aus denken.
Was braucht das Kind, das in den Kindergarten geht?
Was braucht die Schülerin, die in die Schule geht?
Was braucht der erwachsene Mensch, der gut leben möchte?
Was braucht der Rentner?

Menschen mit Beeinträchtigungen sollen eine Wahl haben.
Das ist uns wichtig.
Und wir brauchen gute Bildungsangebote, damit Menschen dazu in die Lage versetzt werden.
Denn Menschen sollen selbst bestimmen, wie sie leben wollen.

Wir haben als Lebenshilfe in Marburg den Masterplan Selbstbestimmung beschlossen.
Und überall in Deutschland wird bei den Lebenshilfen nun überlegt, wie wir die Selbstbestimmung noch verbessern können.
Jede Lebenshilfe soll sich zunächst drei Dinge überlegen.

Und bei der Frage der Selbstbestimmung können wir auch von den Werkstätten lernen.
Nirgends ist die Mitbestimmung für Menschen mit Beeinträchtigungen so stark geregelt, wie in den Werkstätten.
Durch Werkstatträte. Durch Frauenbeauftragte.
Sie machen einen wichtigen Job.
Diese Selbstbestimmung brauchen wir auch in anderen Bereichen.
Wie zum Beispiel in den Wohnstätten.

Zur Selbstbestimmung gehört aber auch, dass man von seinem Einkommen leben kann.
Die Veranstaltung heute steht unter dem Motto: Auskommen mit dem Einkommen.
Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass Menschen mit Beeinträchtigungen in
Werkstätten für ihre Arbeit nicht nur ein Taschengeld erhalten.
Die beauftragte Studie muss ohne finanzielle Einschränkungen umgesetzt werden.

Und das ist das Problem.
Wir erleben es auf Landesebene und Bundesebene.
Immer dann, wenn etwas mehr Geld kosten könnte, wird oft gesagt: nein.
Das halten wir für falsch.
Die UN- Behindertenrechtskonvention und das Bundesteilhabegesetz ist geltendes Recht. Und geltendes Recht ist umzusetzen.

Dass Menschen mit Beeinträchtigungen mehr als ein Taschengeld für ihre Arbeit haben wollen, ist keine Bitte, sondern ihr Recht.

Es stellt sich die Frage: In welchem Land wollen wir leben?
Und ich möchte in einem Land leben, in dem alle Menschen teilhaben können.
Und teilhaben bedeutet auch, dass sie so viel Geld durch ihre Arbeit bekommen,
dass sie davon leben können.

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention und mit dem Bundesteilhabegesetz haben wir gesetzliche Regelungen, mit denen Selbstbestimmung und Teilhabe eigentlich besser möglich ist.
Einige diskutieren darüber, ob die Werkstätten da noch dazugehören.
Ich bin mir sicher, dass wir die Kompetenzen auch weiterhin benötigen.

Es ist aber besonders wichtig, dass wir mit denen, die das betrifft, die Diskussion führen.
Zu Beginn habe ich darüber gesprochen, dass vor 60 Jahren Eltern die Lebenshilfe
gegründet haben, damit ihre Kinder Teilhabemöglichkeiten erhalten.

Heute stehe ich hier und sage:
Die Umsetzung von Inklusion muss dazu führen, dass wir Dinge in Frage stellen und neu ausprobieren.
Die Umsetzung von Inklusion darf aber nicht dazu führen, dass es bestimmte Angebote nicht mehr gibt und Menschen gar keine Unterstützung erhalten.
Das sind wir dem Grundgedanken der Lebenshilfe schuldig.

Meine Damen und Herren,

Von Hannover geht heute ein starkes Signal zur Selbstbestimmung aus.
Ich danke der LAG der Werkstatträte für die Organisation.

Heute ist ein wichtiger Tag.

Aber wir müssen dranbleiben.
Mischen Sie sich ein.
Beteiligen Sie sich.
Damit wir gemeinsam die Grundlage für mehr Selbstbestimmung in Niedersachsen legen.

Vielen Dank